«Herr, lass unsere Kinder deine Herrlichkeit sehen.» (Psalm 90,16)

Japan gilt als das Land des Lächelns, der Höflichkeit und der Harmonie. Im Rückblick auf fast 27 Jahre in diesem Land stockt mir noch heute der Atem über meine deutsche Art der Kindererziehung.

DIE LAUTEN DEUTSCHEN
Sommerferien. Wir beziehen für zwei Wochen das rustikale Camp unseres Gemeindeverbandes. Freiheit für unsere vier Kinder zum Spielen, Hüttenbauen, Schwimmen. Auch Familie Tanaka kommt mit ihren ähnlich alten Kindern. Zwei Familien mit sechs Kindern, da geht es hoch her. Mittendrin beobachte ich Herrn Tanaka, wie er über meine Kommunikation mit den Kindern schmunzelt. Bei mir: starkes Herumfuchteln mit den Händen, lautstarke Anweisungen. Bei ihm: Stille, Lächeln, Blicke, ab und zu etwas die Luft einziehen, äusserstenfalls zusammengepresste Lippen. Erstaunlich, wie das funktioniert.

NÄHE UND ZUWENDUNG
Kinder werden in Japan grundsätzlich nicht alleine gelassen und schlafen in den ersten Jahren neben ihren Eltern. Manchmal wollen sich selbst Zwölfjährige das gemeinsame Schlafen mit den Eltern oder das gemeinsame heisse Baden nicht abgewöhnen. Ein Kind lernt durch die Nähe, hauptsächlich der Mutter, Verbeugungen, Grussformeln, Redewendungen, Lieder, alltägliche Rituale und Gesten. Erwartungsdruck und ritualisierte Wiederholung sind wichtige Erziehungsmethoden. Kinder in Japan geniessen viel Aufmerksamkeit und Zuwendung und werden ausserhalb von zuhause kaum gescholten.

RESPEKTVOLLES VERHALTEN
Aber sie werden dazu erzogen, sich unterzuordnen und ihre Eltern, Grosseltern, Lehrpersonen, ältere Menschen – eigentlich jeden – mit Respekt zu behandeln. Selbst die eigenen älteren Geschwister oder Schüler der nächsthöheren Klasse werden mit einem Ehrentitel angeredet. Ich wurde einmal von einem Pastorenkollegen angesprochen: Er könne es verstehen, dass ich meine Tochter sehr liebe, aber ich solle doch nicht in einer solch stolzen Art und Weise von ihr reden und den «Ehrentitel» verwenden. Ich fiel aus allen Wolken, denn alle Kinder werden damit angeredet – nur, und das hatte ich gänzlich übersehen, die eigenen nicht.

DER NAGEL, DER HERAUSSTEHT, WIRD EINGESCHLAGEN
Individualität wird in Japan eher kleingeschrieben. Wichtig ist die Anpassung an die Gruppe. Eine japanische Geschichte über nationale Unterschiede macht dies deutlich: Um Passagiere eines Dampfers aus Seenot zu retten, ist es nötig, dass die Matrosen über Bord springen. Wie kann der Kapitän sie dafür gewinnen? Englischer Kapitän: «Ein Gentleman springt!» Amerikanischer Kapitän: «Es ist wirtschaftlich vorteilhaft zu springen!»- Deutscher Kapitän: «Befehl von oben: springen!» Japanischer Kapitän: «Alle springen!» Japaner achten darauf, was die anderen tun. Abweichendes Verhalten ist verpönt. Liegt es daran, dass die Japaner ein Inselvolk sind, das eine Sprache spricht und eine lange Geschichte der Abgeschlossenheit vom Rest der Welt hat?

EINFLUSS DER SCHULE
Als wir uns entschieden, unsere Kinder in einen japanischen Kindergarten und dann in die japanische Grundschule zu schicken, rieten uns ältere Missionsmitarbeiter ab: «Der Einfluss ist zu stark.» Die japanische Schule hat nicht nur die Aufgabe, Wissen weiterzugeben, sondern vermittelt soziale Werte und Normen. Eltern in Japan überlassen die Erziehung ihrer Kinder buchstäblich den Bildungseinrichtungen. Unter Missionsfamilien setzte sich im Laufe der Zeit folgende Vorgehensweise durch: Kindergarten und Grundschule japanisch, danach besser eine nicht-japanische Schule. In unserem Fall war es eine christliche zweisprachige Schule (Englisch/Japanisch) mit amerikanischem System.

SPIELGEFÄHRTEN
Auch japanische Kinder spielen gern, sie jagen z. B. gemeinsam nach Insekten. Ein Pastorenkollege wurde bei einem praktischen Einsatz am Camp ganz aufgeregt, ergriff einige Utensilien und rannte einem kleinen Tierchen hinterher. Stolz zeigte er mir anschliessend seine Beute: ein Nashornkäfer. Vorsichtig tat er ihn in einen Behälter, um ihn seinem Sohn als Haustier mitzubringen. Nashorn- und Hirschkäfer sind gängige Haustiere. Wo Katzen, Hunde und Kaninchen keinen Platz finden, kommt ein Käfer immer unter. Auch einer meiner Söhne wurde vom Insektenfieber befallen und entwickelte den Berufswunsch, Hirschkäferzüchter zu werden. Selbst heute noch lieben meine erwachsenen Söhne es, Kaulquappen zu fangen und sie bei der Verwandlung zum Frosch zu beobachten.

Ob es nun deutscher oder japanischer Erziehungsstil ist, mein Gebet bleibt: «Herr lass unsere Kinder deine Herrlichkeit sehen.»

Autoren: Jürgen & Gisela