Ich öffne die Augen. Es ist noch dunkel im grossen Schlafsaal. Das Smartphone zeigt, dass es fast 6 Uhr ist. Noch einmal strecke ich mich gemütlich auf der nicht sehr weichen Matratze aus. Ich geniesse die Wärme, entspanne mich und freue mich, dass im Moment weder Füsse, Beine noch Rücken schmerzen. Nach den gestrigen 28 km und 800 Höhenmetern überrascht mich das, und es wird sich wohl sehr bald ändern.

Im fast dunkeln Saal packen JY, meine koreanische Kollegin, und ich unsere Schlafsäcke, die wenigen Kleider, die wir am Abend noch gewaschen haben, Snacks und Telefonkabel in den Rucksack. Die meisten der ca. 25 Pilger, die heute Nacht hier geschlafen haben, sind nun am Aufstehen. Es gibt etwa 30 Doppelstockbetten im Saal. Ich bin froh, dass nicht die Hochsaison ist und wir den Raum nicht mit 60 Leuten teilen müssen.

Begegnung im Café

Wir steuern zuerst auf das nächste Café zu und geniessen Milchkaffee und spanischen Toast mit Tomaten und Olivenöl. Eine uns noch unbekannte Pilgerin betritt den Raum, und wir laden sie zu uns an den Tisch ein. Laura kommt aus Kanada. Heute ist ihr erster Tag auf dem Jakobsweg. Wir kommen ins Gespräch, beantworten einige ihrer Fragen. Mit dem üblichen Gruss: «Buen Camino» verabschieden wir uns von ihr.

Ich gehe langsamer als die anderen Pilger. Laura wird uns bestimmt irgendwann überholen, oder wir werden sie am Abend wiedersehen. Dann können wir unser Gespräch mit ihr fortsetzen.

Gedankenanstösse

Schon bald holt uns Jan, ein etwa 65 jähriger Pole, ein. Kennengelernt haben wir ihn zwei Tage früher bei einem Abendgottesdienst. Er spricht ausser Polnisch nur wenige Worte Spanisch. Ein Gespräch ist somit nicht möglich.

Wir haben eine kleine Broschüre in vielen Sprachen dabei, u. a. auch eine polnische. Das WEC-Team gibt diese Broschüre auf dem Camino weiter. Sie gibt Gedankenanstösse über die Symbole des Pilgerweges. Jan bedankt sich und geht weiter. Ob er sich wohl von jetzt an Gedanken darüber macht, was die gelben Pfeile des Caminos für sein Leben bedeuten könnten? Was passiert, wenn du auf dem Lebensweg einen Pfeil verpasst? Bist du dann bereit, umzukehren? Wir beten für Jan.

Ein unbeschreibliches Gefühl

Im nächsten Dorf gibt es einen Kaffee. Es tut gut, die schmerzenden Füsse zu entlasten! Langsam steigen wir tiefer hinab ins Tal. Jeder Schritt schmerzt inzwischen. Heute standen „nur“ 23 km auf dem Plan. Aber die letzten zwei Kilometer scheinen jeden Abend doppelt so lang zu sein.

Einmal mehr frage ich mich: Warum tue ich mir das an? Ich bin frisch pensioniert, im Ruhestand sozusagen. Aber dann denke ich an Laura, Jan, an die deutsche Frau mit ihrem Sohn, an Anne-Marie, der ich das Evangelium erklärt und eine digitale Bibel heruntergeladen habe, an die koreanische Mutter mit ihrer Tochter, die italienische Architekturstudentin, die Amerikanerin, die mit der Nato in den schwierigsten Gebieten der Welt arbeitet, und an viele andere kürzere oder längere Begegnungen.

Es ist mir klar, dass ich am nächsten Morgen wieder früh aufstehen werde, um die nächste Etappe in Angriff zu nehmen. Ob sich wohl einige der neuen Freunde die Zeit nehmen werden, über Gott nachzudenken? Ob wir sie eines Tages bei Jesus treffen werden?

Aufgeben kommt für mich nicht in Frage. Das Gefühl, nach neun Tagen, 200 km Fussmarsch und unzähligen Begegnungen in Santiago anzukommen, ist unbeschreiblich. So ein Kurzeinsatz ist immer wertvoll, egal für welches Alter.

Autorin: Käthi